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04.03.2011

Patagonien 2011

Am Schluss ist es ganz einfach. Als ich in der Headwall auf dem legendären Kompressor des Cesare Maestri stehe, weiß ich, dass uns heute nichts mehr aufhalten wird, den Gipfel des Cerro Torre zu erreichen. Es ist der 10. Februar, neun Uhr abends, die Sonne wird bald untergehen und den Gipfel dieses großartigen Berges in warme Farben tauchen. Der richtige Zeitpunkt, um endlich ganz oben zu stehen…

Wir waren am 14. Jänner über Buenos Aires nach Patagonien geflogen. Am 15. Jänner kamen wir in El Calafate an, freilich ohne einen großen Teil meines Gepäcks. Kleidung und Teile meiner Kletterausrüstung ließen auf sich warten.

El Chaltén, der kleine Ort, von dem aus wir unsere Expedition starten wollten, fühlte sich verändert an, anders als voriges Jahr, als ich zum ersten Mal versucht hatte, den Cerro Torre zu machen. Die Ruhe, die dieses Städtchen am Rande der Zivilisation ausgestrahlt hatte, war einer höheren Betriebstemperatur gewichen, der Ort war geschäftiger, schneller geworden. Wir zogen in einen weißen Container, nur wenige Schritte von einem kleinen Supermarkt entfernt.
Tags darauf gingen wir fischen. Die Angelrute war immerhin angekommen. Der Plan lautete: jede Chance muss genützt werden. Nachdem im vergangenen Jahr das schlechte Wetter ernsthafte Kletterei während zwei Monaten unmöglich gemacht hatte, wollten wir diesmal kürzer in Patagonien bleiben, aber flexibler auf Phasen guten Wetters reagieren – auf jene „Wetterfenster“, die uns der Innsbrucker Flugmeteorologe Charly Gabl verlässlich in Aussicht stellte. Deshalb trugen wir auch schon am zweiten Tag nach unserer Ankunft schwere Rucksäcke mit Material ins Nipo Nino, unser Basislager. Wir starteten um vier Uhr früh in El Chaltén und wurden mit einem fantastischen Sonnenaufgang belohnt. Um elf waren wir im Lager, das Wetter immer noch gut, also fassten wir einen schnellen Entschluss. Wir würden heute noch die „Aguja de la S“, einen kleinen Gipfel in der Fitz Roy-Kette, in Angriff nehmen. Immerhin ein Gipfel, und man weiß ja nie.
Wir stiegen also auf die „S“, 1000 Höhenmeter leichtes Gelände, ungesichter Aufstieg. Dann seilten wir uns an und es folgten sechs schöne und anspruchsvolle Seillängen. Noch immer steckte ich in den Kleidern von Peter, weil meine noch auf Reise waren. Aber nur die Schuhe waren ein Problem, die waren mir mindestens drei Nummern zu groß.
Es war kalt, und der Wind war stark. Aber die Sicht war okay, wir konnten diese fantastische Ecke der Welt in vollen Zügen genießen. Wobei: so viel Zeit zum Genießen hatten wir gar nicht.
Nachdem wir uns vom Gipfel abgeseilt hatten, gingen wir direkt zurück nach El Chaltén. Abends um elf waren wir wieder da. Das Ergebnis dieses Tages konnte sich sehen lassen: 60 Kilometer zu Fuß, 3000 Höhenmeter, ein Gipfel. Ein guter Grund, tief zu schlafen.

Als an den nächsten Tagen das Wetter wieder schlecht wurde, vertrieben wir uns mit Fischen und Bouldern die Zeit. Charly kündigte dann für den 26.1. ein Wetterfenster an, also brachen wir am 24. abends ins Nipo Nino auf und schöpften Hoffnung. Denn der Torre zeigte sich in seiner ganzen Schönheit – wer schon einmal darauf gewartet hat, dass dieser Berg nach Wochen aus Nebel und Wolken auftaucht, weiß, dass das die Ausnahme von der Regel ist.
Der Cerro Torre war von oben bis unten unterschiedlich stark vereist. Wir hofften also, dass das schöne Wetter die schlimmsten Eisbrocken „ausräumen“ würde. Tatsächlich konnten wir zusehen, wie einiges Eis zu schmelzen begann, aber das brachte ein anderes Problem mit sich. Denn das Wasser lief in die Risse unserer Linie und vereiste sie. Dementsprechend schwer war das Terrain dann auch zu klettern.
Als wir morgens um drei mit unseren Stirnlampen starteten, war augenblicklich klar, dass wir den Gipfel einmal mehr vergessen mussten. Das Eis, das in den Rissen steckte, machte ein schnelles Fortkommen unmöglich. Allein bis zur Bolt-Traverse, wo die ernsthafte Kletterei erst losgeht, brauchten wir sieben Stunden. Das Wetter war okay. Aber das Eis. Wir kletterten noch die erste Hälfte der Bolttraverse, bevor wir beschlossen wieder abzusteigen. Wir seilten uns ab und marschierten die dreißig Kilometer zurück nach El Chaltén.

Das Ziel, das ich mir gesetzt habe, ist auch schon vor einem Jahr ehrgeizig gewesen: ich will den Cerro Torre im freien Kletterstil besteigen. 2010, damals mit meinem Freund Daniel Steuerer, waren wir nicht einmal in die Nähe dieses Ziels gekommen. Unter widrigen Wetterumständen hatten wir gerade einmal bis zur Bolt-Traverse klettern können.
In diesem Jahr bin ich gemeinsam mit meinem Partner Peter Ortner etwas anders an die Sache herangegangen: Die freie Begehung des Cerro Torre bleibt das oberste Ziel. Aber dafür müssen wir zuerst auf den Gipfel, um zu sehen, ob der Berg überhaupt eine freie Begehung zulässt. Sollten die Bedingungen am Torre wieder einmal kein Klettern zulassen, warten noch genügend andere, reizvolle Gipfel; wir sind ja nicht im Flachland.
Soll heißen: Wir machen, was geht.

Wieder vergingen ein paar Schlechtwettertage mit Fischen und Bouldern. Ich vertiefte mich in ein Projekt, das ich bereits aus dem letzten Jahr kannte. Eine Route, die mit einem rund sechs Meter hohen 8a+ Boulder startet, erst dann kann man einen Friend legen, es folgt ein technisch äußerst anspruchsvoller 8a Boulder. Zusammengehängt hat das ganze dann vielleicht 8c+ und trägt jetzt den hochintellektuellen Namen „Fuck die Henne“.
Mit spanischen und argentinischen Kollegen feierten wir ein Grillfest – das Fleisch, das wir in El Chaltén bekamen, war außerordentlich. Außerordentlich gut und außerordentlich viel.

Am 31.Jänner gingen wir wieder ins Nipo Nino. Das Wetter wurde über Nacht schlecht. Es schneite und stürmte, und nachdem wir uns wegen der schlechten Sicht bereits am Gletscher verlaufen hatten, gaben wir unseren Plan, die „Claro de Luna“ an der Aguja St. Exupéry zu klettern, bereits nach 700 Metern auf.
Wieder vergingen einige Tage mit Fischen und Bouldern. Ein paar Einheimische organisierten einen Boulder-Festival, und wir unterhielten uns prächtig, vor allem beim anschließenden Fest. Ausnahmsweise waren wir erst um vier im Bett, und als wir am 6. Februar ziemlich spät aufwachten, bemerkten wir, dass das Wetter gut aussah. Wir packten also im Eiltempo unser Zeug zusammen und marschierten hinein in den Nationalpark, am Nachmittag kamen wir im Nipo Nino an. Für den Torre war das prognostizierte Wetterfenster zu kurz. Als Alternative wollten wir also den Poincenot in Angriff nehmen, den mit 3002 Metern dritthöchsten Berg der Region, keine ganz leichte Tour.
Wir starten um drei, das ist inzwischen unsere Zeit. Gehen unter der Aguja Desmochada über einen Rücken hinauf, klettern eine Rinne hoch, über der ein großer Serrac hängt. Immer wieder hören wir es rumpeln, aber es scheint kein Eis von diesem gewaltigen Gletscherbruch herunterzufallen. Über die „Carrington-Rouse“ steigen wir zum Gipfel auf.
Oben am Gipfel ist von lässig allerdings keine Spur. Der Wind geht so stark, dass wir uns fürs Gipfelfoto mit allen Extremitäten verspreizen müssen, und trotzdem hätte es uns fast runtergeweht. Unser ursprünglicher Plan, über die Westwand zurück ins Nipo Nino abzuseilen, ist bei diesem Sturm undurchführbar. Wir steigen also über die Ostseite ab. 1000 Meter abseilen und dann über den Glaciar Rio Blanco und den Glaciar de los Tres zurück nach El Chaltén, sieben Stunden lang. Um zwei Uhr früh sind wir zurück in unserem Container.

Aber auch die folgende Nacht wird nicht lang, patagonische Gipfel gehören eben gefeiert. Am Morgen sieht das Wetter noch immer okay aus, auch wenn Charly angekündigt hat, dass sich das Wetterfenster schließen wird.
Worauf sollen wir warten? Dass es noch besser wird? Noch am selben Abend gehen wir wieder ins Nipo Nino, kommen um elf an und legen uns noch drei Stunden hin. In diesen drei Stunden schlägt der Wind auf unserem Zelt einen Rhythmus wie auf einem Tamburin. An Schlaf nicht zu denken. Wir liegend schweigend da und warten, dass es zwei Uhr früh wird.
Der Aufstieg zur Schulter ist in genialem Zustand. Um neun Uhr morgens sind wir da, kochen etwas Wasser und rasten, ich kriege sogar eine halbe Stunde Schlaf. Dann steigen wir zur Bolttraverse auf. Zum ersten Mal, seit wir hier klettern, ziehen wir die Kletterschuhe an. Dieselbe Strecke, für die wir vor ein paar Tagen sieben Stunden gebraucht haben, erledigen wir jetzt in zweieinhalb.
Weiter als bis hier bin ich noch nie gekommen.
Wir wechseln die Kletterschuhe wieder gegen die Bergschuhe. Ein sorgenvoller Blick aufs Wetter, aber das Wetter scheint zu halten. Also nichts wie hinauf auf die Iced Towers. Endlich eine seriöse Chance, den Gipfel zu erreichen. Es ist etwa halb drei Uhr nachmittags.
Wir folgen der Kompressorroute von Cesare Maestri, ich scanne die Wand nach Rissen und Schuppen, nach Möglichkeiten, sie ohne Zuhilfenahme der technischen Ausrüstung zu klettern. Sieht nicht schlecht aus, aber nicht jetzt. Jetzt wollen wir vor allem: hinauf.
Es ist halb fünf, als wir bei einem ernsten Problem ankommen. Hier, unterhalb der Headwall, stecken Bohrhaken im Abstand von etwa einem Meter übereinander, eine sogenannte Bohrhakenleiter. Aber die Haken sind dick vereist. Keine Chance, sie jemals zu finden.
Wir müssen ausweichen. Links von uns sehen wir einen Gully, einen etwa 60 Meter hohen, beidseitig vereisten Riss von weniger als einem Meter Breite. In diesem Riss arbeiten wir uns hoch, in jeder Hand einen Pickel, ohne jedoch richtig ausholen zu können, um die Spitze des Pickels tief ins Eis zu schlagen. Es ist grauslich und anstrengend, und zu allem Überfluß ist der Gully brandgefährlich. Das ganze Eis – das weiß Peter, das weiß ich – das oben abbricht, wird uns treffen.
Ein paar Mal höre ich wie etwas auf mich zukommt und verspanne mich schon vorsorglich. Aber es kommt nichts Großes. Vielleicht nur Fantasie.
Dann ein Poltern, nur ganz kurz, und gleich darauf der Schlag, ein böser, heftiger Schlag eines Eisbrockens vom Umfang zweier Fußbälle, der mir auf den Helm kracht, den Helm anknackst, meine linke Schulter ramponiert, bevor er sich nach unten verabschiedet.
Schock. Erst als ich meinen Kopf kreisen lasse, kann ich glauben, dass nichts Heftigeres passiert ist.
Wir steigen in die Headwall ein und überholen eine kanadische Seilschaft, die sich hier heraufkämpft. Es ist sechs Uhr abends. Oben sehe ich den Kompressor hängen, mit dem Cesare Maestri sich seinerzeit nach oben gebohrt hat.
Wir klettern hinauf zum Kompressor, ich mache Stand. Sehr bequem. Wir werden es heute bis ganz hinauf schaffen.
Peter ist mit Vorsteigen an der Reihe, er legt die Bridwell-Länge, die letzte Schwierigkeit auf dem Weg zum Gipfel, mit einiger Anstrengung zurück. Ich folge ihm. Vom letzten Stand klettere ich ein Schneefeld hoch. Jetzt noch der Eispilz. Ich steige über eine Rinne nach oben. Der Himmel ist goldgelb. Die Sonne schon längst untergegangen und das Licht ist so schön wie nirgendwo sonst auf der Welt. Es sind nur ein paar Minuten, die wir da oben verbringen, aber es sind Minuten, die ich nie wieder vergessen werde.

Wir seilten dreieinhalb Stunden ab, schliefen drei Stunden auf der Schulter und gingen direkt hinaus nach El Chaltén. Wir hatten nur noch einen Wunsch: etwas zwischen die Zähne zu kriegen und die Füße auszustrecken.
Abends gingen wir noch essen, dann zurück in den Container.
Als sich wenige Tage später wieder ein Wetterfenster auftat, fragte ich Peter, ob wir als Draufgabe den Fitz Roy machen wollen. Er sagte ja, und wir gingen zum Einstieg. Aber dann drehten wir um. Für heuer hatten wir genug.

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