Nicht zu unterschätzen
Anfang Januar konnte ich endlich – im vierten Anlauf – die »Sagzahn-Verschneidung« erstbegehen. Schon beim ersten Versuch vor fünf Jahren dachte ich mir, dass ich diese Seillängen nie mehr führen will, nun bin ich sie in Summe viermal vorgestiegen.
Wer regelmäßig auf meiner Homepage vorbeischaut, ist schon öfter auf den Namen Sagwand gestoßen. Wo gibt es schon so nah an Innsbruck eine solche Ansammlung von großen, wahrlich alpinen Bergen wie im Valsertal? Der Olperer mit seiner Nordwand, der Fußstein mit der Nordkante, der Schrammacher, mit seiner 1000-Meter-Wand sozusagen der »Eiger Tirols«, und dann eben die Sagwand. Durch ihre 800 Meter hohe Nordwand führten schon ein paar klassische Routen, als Andi Orgler sie in den 1980er-Jahren für sich entdeckte und einige markante Linien hinzufügte. Im August 2008 gelang mir dort eine meiner ersten alpinen Erstbegehungen, die »Desparation of the North Face« mit Jorg Verhoeven. Ich schätze die Sagwand sehr und besuche sie oft, auch allein. Sie ist wild und wirkt von Grund auf abweisend. Vor allem im Winter, wenn sie sich in eine noch einmal wildere, anspruchsvollere Wand verwandelt.
Im Winter ist das Valsertal eines der kältesten Löcher in Tirol. Was einen nicht zu verachtenden Vorteil hat: Dann hält der Frost den Fels, der im Sommer immer brüchiger wird, einigermaßen zusammen. In den letzten Jahren war ich nur noch in der kalten Jahreszeit dort. Anfang 2013 realisierte ich mit Hansjörg Auer und Peter Ortner die erste Winterbegehung des »Schiefen Risses«. Das war eine der härtesten Aktionen, die wir drei überhaupt gemacht haben, bei unter minus 20 Grad – Hansjörg sagt heute noch, dass unser Sitzbiwak in der Wand das härteste Biwak war, das er bislang in den heimischen Bergen erlebt hat.
Es war auch ungefähr zu dieser Zeit, als mir die Verschneidung zwischen Schrammacher und Sagwand ins Auge fiel, eine offensichtliche und schöne Linie, die unten durch ein Schneefeld führt und dann gute 200 Meter als weiße Spur durch den Fels nach oben zieht, bevor sie durch etwas einfacheres Gelände von hinten den Gipfel des Sagzahns erreicht. Den ersten Versuch machte ich mit einem Schulkollegen, doch ich merkte schnell, dass ich die Schwierigkeiten der Wand aus der Ferne unterschätzt hatte. Wir kamen nur drei Seillängen hinauf, etwa ein Drittel der Steilwand. Zwei Jahre darauf kehrte ich mit einem Osttiroler Kletterfreund zurück. Die ersten 200 Meter stellten sich als richtig anspruchsvolle Mixed-Kletterei heraus. Doch Uli und ich kamen durch, und wir waren schon am Ende der Schwierigkeiten, als es leider dunkel wurde. Aus Sicherheitsgründen seilten wir ab.
Zwei Wochen später standen wir wieder unter der Wand, diesmal am Abend. Wir schliefen am Wandfuß, um früh genug dran zu sein und im Hellen absteigen zu können. Unglücklicherweise bekam Uli in der zweiten Seillänge eine Eisplatte auf den Kopf und war so mitgenommen, dass wir ein weiteres Mal den Rückzug antreten mussten.
Seither herrschte Stillstand. Ich spekulierte jeden Winter auf die neue Route, aber die Verhältnisse stimmten nie. Heuer passte an einem der ersten Januartage alles zusammen, und ich brach zusammen mit Peter Mühlburger auf – Uli mochte nicht noch einmal mitkommen. Ich wollte die Erstbegehung endlich zum Abschluss bringen und dabei auf Nummer sicher gehen, deshalb stiegen wir wieder am Vortag zum Wandfuß, auf Skiern und mit überdimensionierten Rucksäcken, und übernachteten im Zelt. Am nächsten Morgen brachen wir früh auf, brachten in eineinhalb Stunden das Schneefeld hinter uns und seilten uns an.
Peter stieg die erste Seillänge vor; die zweite und die dritte, die schwierigsten der ganzen Route, waren dann mein Part. Der unzuverlässige Fels und die winterlichen Verhältnisse machten das Absichern anspruchsvoll. Während die zweite Seillänge durch die seichte Verschneidung führte, querte die dritte nach rechts hinaus, zog über ein Dach und dann über dünne Glasuren weiter nach oben. Ich bewegte mich wie auf rohen Eiern nach rechts und suchte vorsichtig mit den Zacken der Steigeisen nach Halt, während ich mit den Eisgeräten immer wieder Schneepilze wegschlagen und aufpassen musste, dass sie mich nicht mitzogen. Zweimal brach mir ein Tritt aus – ich erschrak jedes Mal und sah mich schon hinunterfliegen.
Über das Dach kletterte ich technisch, sonst wäre das Sturzrisiko zu hoch geworden – in diesem Gelände, mit dieser Absicherung und mit Steigeisen an den Füßen will man nicht wirklich abgehen, selbst wenn es steil genug zum Stürzen wäre.
Es war so, wie es mir eigentlich am besten taugt: richtig hartes Bergsteigen, bei dem man mit allen Mitteln schauen muss, dass man durchkommt.
Als ich mich fast über das Dach gearbeitet hatte, brach mir plötzlich der Griff halb aus, und mich durchfuhr ein solcher Schreck, dass mir fast die Luft wegblieb. Ich konnte mich gerade noch fangen.
Nach sechs Seillängen, mit immer wieder anspruchsvollen Passagen, die ich nur in technischer Kletterei überwinden konnte, hatten wir den steilsten Bereich der Wand hinter uns. Zum Gipfel ging es noch einmal genauso lang, durch eine Schneerinne mit zahlreichen Aufschwüngen, aber das Gelände wurde spürbar leichter, und wir konnten Meter machen. Trotzdem war es, als wir am Gipfel ankamen, doch schon wieder 17 Uhr. Mit Abseilaktion und Abfahren zum Auto wurde es 23 Uhr, bis wir wieder in Innsbruck waren. Die technische Kletterei – Peter und haben uns bei der Bewertung auf M6/A2 verständigt – benötigt einfach viel Zeit. Jedenfalls zählt die »Sagzahn-Verschneidung« zu den schwierigsten Linien, die ich bislang an der Sagwand geklettert bin.
Natürlich würde ich mich freuen, wenn die Route wiederholt wird, zu rechnen ist damit aber wohl eher nicht so schnell – nur äußerst selten werden Linien abseits der klassischen Führen im Valsertal wiederholt. Die »Sagzahn-Verschneidung« hat vor allem einen persönlichen Stellenwert für mich: Ich habe sie so lange angeschaut, habe mehrere Versuche gebraucht, und ich habe sie jedes Mal unterschätzt.
Nun ist die Erstbegehung endlich fertig, ich muss keine der Seillängen erneut vorsteigen und kann mit einer tiefen Zufriedenheit diese Linie bestaunen.